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Nachtflug

Das ausgesprochen warme Wetter der letzten Tage lässt uns nur allzu schnell vergessen, wie kalt, feucht und vor allen Dingen lang der letzte Winter war. Während wir zitternd und frierend unter Regenschirmen und mehreren Schichten dicker, warmer Kleidung das Wetter im Allgemeinen und den Winter im Besonderen hingebungsvoll monatelang verfluchten, fühlten sich die Insektenlarven ausgesprochen wohl. Wer damit gerechnet hatte, dass das ungemütliche Klima des letzten Winters einschließlich großer Teile des Frühlings den heranwachsenden Mücken, Schnaken und anderen lästigen Insekten den Garaus gemacht hätte, hatte sich kräftig verrechnet. Tatsächlich sagen Experten, dass es in diesem Jahr wesentlich mehr Insekten gibt als in den vorangegangen Jahren, weil die Larven eben das feuchte Klima für eine gesunde Entwicklung brauchen. 

Daher ist eines der häufigsten Geräusche, was man in diesem Sommer hört, das Surren und Summen kleiner, blutgieriger Mistviecher, die uns Zweibeiner offenbar als irrsinnig großes und schmackhaftes Buffet betrachten. Das zweithäufigste Geräusch in diesem Sommer ist folglich auch das mehr oder weniger rhythmische Klatschen von Händen auf Nacken, Arme, Brust, Beine, Po oder wo auch immer die kleine Sauger ihre Mahlzeit einzunehmen wünschen. 

Während andere Menschen in meinem Dunstkreis sich tagtäglich über neuerliche Mückenattacken aufregen und der mehr oder weniger interessierten Umwelt Arme und Beine mit beulenpestartiger Dekoration vorführen, blieb ich bisher von der blutsaugenden, insektoiden Plage beinahe unberührt. Vielleicht liegt es an meiner Vorliebe für Knoblauch, vielleicht an meiner stahlharten Ganzkörperhornhaut, die kein Stachel zu durchdringen vermag, jedenfalls ist mein Model-Body noch zart und glatt, abgesehen vielleicht von meiner männlich-herben Körperbehaarung.
Trotzdem bin auch ich vom derzeitigen Massenauftreten von Mücken, Faltern und dergleichen mehr nicht gänzlich unbetroffen, bin ich doch regelmäßiger Teilnehmer am nächtlichen öffentlichen Straßenverkehr. Sobald der Motor meines Familienlasters brüllend zum Leben erweckt wird und der gleißende Strahl meiner High-Energy-Frontalfunzeln die fahle Dunkelheit des mitternächtlichen Nordhimmels durchdringt, stürzen sich wahre Heerscharen insektoiden Lebens ins Licht. Solange das Fahrzeug immobil ist, mutet die plötzliche Völkerversammlung im Schein meiner Lampen lediglich wie eine ausgesprochen agile, lebenslustige Staubwolke an.
Aber sobald ich den hundert munteren Mustangs unter der Haube die Sporen gebe und unseren Familienlaster durch die dunkle Nacht treibe, ist die gesamte, gigantische Insektenwolke im Lichte meiner Kutsche nur von einem einzigen Gedanken beseelt: Stürzt euch alle auf die Windschutzscheibe!
In Bruchteilen von Sekunden verwandeln sich ehemals elegante Flieger, kleine Wunderwerke der Natur, in kaum millimeterdicken, ekligen Schleim auf meiner Frontscheibe. In Scharen werfen sich die suizidalen Flatterviecher gegen meinen Laster, ohne dass ich auch nur im Ansatz eine Chance hätte, ihnen auszuweichen. Mit jedem Meter, den ich weiterfahre, klatschen weitere, unzählige Leiber auf die Scheibe und behindern auf diese Weise ganz allmählich die Sicht in die weite Welt vor mir. Kurz bevor das Fahren einem Blindflug gleicht, versuche ich mittels Unmengen von Waschwasser und hektischer Scheibenwischerei, die Sicht auf die Straße zu verbessern. Aber statt sich von der Frontscheibe zu lösen und in den natürlichen Kreislauf des Werdens und Vergehens einzugehen, verteilen sich die sterblichen Überreste von unzähligen Mücken und Faltern nur gleichmäßig unter dem verzweifelten Hin und Her der Scheibenwischer und geben der Scheibe das Aussehen eines frisch lasierten Schlachtfeldes. Mein Blick bleibt getrübt, aber immerhin kann ich noch das wichtigstes erkennen: Straßenbegrenzungen, andere Verkehrsteilnehmer in ähnlich misslicher Lage und die Abzweigung zum heimatlichen Carport.
Am nächsten Morgen kann man mich dabei beobachten, wie ich kopfschüttelnd und bewaffnet mit Glasreiniger, Schwamm und anderen Reinigungsutensilien vor meinem Familienlaster stehe und das Ergebnis des nächtlichen Massakers auf der Frontscheibe betrachte.
Es kostet reichlich Mühe, viel Reinigungsmittel und einige Kubikmeter Wasser, die dicke Schicht aus tausenden und abertausenden Faltern und Käfern mit Spachtel, Schwamm und Hingabe von der Scheibe zu entfernen, damit ich in der nächsten Nacht wenigstens für eine kleine Weile freie Sicht habe, bevor sich die gesamte Insektenwelt wieder auf mein Auto stürzt. 
Angesichts des allnächtlich frisch belegten Insektenfriedhofs frage ich mich, warum es überhaupt noch so viele Insekten geben kann. Wenn man mal bedenkt, wie viele Fahrzeuge in jeder Nacht unterwegs sind, und welche unglaublichen Massen an Insekten über allerlei Windschutzscheiben landauf-landab geschmiert werden, dürften eigentlich kaum noch welche übrig bleiben, die im Schlafzimmer nächtens nach Blut gieren. Und tatsächlich ist es doch immer nur eine einzige, winzige Mücke, die uns nächtelang mit ihrem Sirren um Schlaf, Verstand und körperliche Unversehrtheit bringt.
Aber die Rechnung scheint irgendwie nicht aufzugehen, denn schon in der nächsten Nacht stellt meine Windschutzscheibe wieder einmal ein undurchdringliches und finales Hindernis für die fliegende Insektenwelt dar. Da mir die Milliarden Dramen auf der Frontscheibe allmählich auf den Geist gehen und ich auch endlich mal den Durchblick behalten will, beginne ich spontan einen Feldversuch, um künftig die Scheibe sauber zu halten. Ausgehend von dem bekannten Fakt, dass alle Mücken unbeirrbar ins Licht fliegen, entziehe ich den im weiteren Umkreis befindlichen Vertretern insektoiden Lebens den Grund, sich vor oder auf meinem Auto zu versammeln: Ich schalte das Licht bei voller Fahrt aus. Schon nach nur wenigen Metern, nach einigen sehr merkwürdigen, rumpelnden und ziemlich beunruhigenden Geräuschen, nach etlichen endlos langen Schrecksekunden und einem plötzlichen, heftigen Schweißausbruch beende ich den Feldversuch ebenso spontan, wie er begonnen hat, und suche in der Dunkelheit meines Familienlasters hektisch nach dem Lichtschalter. Ich hätte nie geahnt, dass ich einmal ein derartig heftiges Verlangen nach Licht, insbesondere in Fahrtrichtung, haben würde. So langsam kann ich die Mücken verstehen.
Ich werde mich wohl damit abfinden müssen, allnächtlich das letzte zu sein, was unzählige Insekten zu sehen bekommen. Oder ich versuche, Mücken, Falter und anderes Getier, was vom Lichte angezogen wird, mit Glühwürmchen zu kreuzen. Dann hätte jedes Vieh sein eigenes Licht und brauchte sich nicht mehr für das meines Vehikels zu interessieren.
Walter Röhrl hat mal gesagt: „Ein guter Autofahrer hat die Fliegen auf der Seitenscheibe.“ Vielleicht versuche ich das mal...  

Wer schon immer mal genau sehen wollte, was die Mücke am Arm eigentlich genau macht, folge dem Link:


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