Gerade eben war er doch noch so klein. Den Satz kennen wohl alle Eltern…
Gerade eben war unser Sohn noch so klein, dass ich selbst Angst hatte, ihn auf den Arm zu nehmen, weil ich befürchtete, ihn kaputt zu machen. Er war doch noch so klein, kaum eine Handvoll.
Und dann? Dann rannte er plötzlich auf allen vieren durch das Haus, dann plötzlich war er groß genug für sein erstes Fahrrad, und jetzt – ist er ein Schuljunge. Dabei war er doch gestern noch so klein!
Eigentlich hatten wir ja auch genug Zeit, um uns auf diesen denkwürdigen Tag vorzubereiten. Schon Monate vorher tauchte plötzlich ein amtlicher Schulranzen in unserem Haushalt auf, viele Wochen vorher bekamen wir eine Einladung der Schule zwecks Vorstellung unseres Sohnes. Dann gab es Informationsveranstaltungen, einen Elternabend „light“*, noch mehr Post von der Schule und natürlich eine ganze Reihe Gespräche mit anderen Eltern, die ihre Kinder zum gleichen Datum dem Lehrinstitut in den Rachen werfen sollten.
Aber letztlich war es der Kauf der Schultüte für Junior, die uns das ganze Ausmaß der Entwicklung unseres Sohnes vor Augen führte. Diese Schultüte stand am Ende einer langen Vorbereitung der Einschulung. Der Kuchen war gebacken, das Mittagessen vorbereitet, die gesamte Sippschaft eingeladen, um dem Ereignis durch ihre Anwesenheit einen würdigen Rahmen zu bereiten, und natürlich hatten wir auch an Geschenke zur Einschulung gedacht. Selbst an ein paar Kleinigkeiten für seine Schwester hatten wir gedacht, komplett mit Schultüte in der Größe Medium.
Und dann war er plötzlich da, der große Tag. Unser künftiger Schüler stand mit Schulranzen, Maxi-Schultüte und Schwesterchen mit stolzgeschwellter Brust vor der Haustür und ließ sich für den ersten Schulweg seines Lebens vom stolzen Vater und mindestens ebenso stolzen Großvater ablichten. Und seine Oma, was meine Mutter ist, wurde historisch. „Genau wie du damals, mein Junge!“
In der Schule war die Sporthalle flux zum Veranstaltungsraum umfunktioniert worden, um so etwa zwanzig Kinder und zweihundert Angehörige zu bewirten. Der Kindergarten verabschiedete seine ehemaligen Kameraden mit einem feierlichen Spalier, und der Rektor dankte einer ganzen Reihe von Schülern und Lehrern, dass sie diesen Tag so wunderbar vorbereitet hatten. Und damit hatte der Mann völlig Recht, denn es gab nicht nur Reden, sondern auch Kaffee und Kuchen, kredenzt von jungen, freundlichen Elevinnen, sowie eine Gesangsdarbietung, vorgetragen von der zweiten Klasse der Schule, unterstützt durch ein kleines, aber enthusiastisches Orchester, bestehend aus vier verschiedenen Perkussionsinstrumenten und einem ebenso hingebungsvollen wie geduldigen Kapellmeister am Klavier.
Dann wurde es ernst für unseren Sohn. Bis gerade eben befand er sich noch in der Obhut einer erklecklichen Anzahl von Eltern und Großeltern, nun aber wurde sein Name aufgerufen, auf dass er sich nach vorn begebe, in den Kreis seiner neuen Mitschüler. Und Prinz Fürchtenicht ging nicht nach vorn, er wankte nicht, er schlich nicht, nein – er rannte! Der kleine Kerl, dem lieb Frauchen und ich doch gerade erst noch die Windel gewechselt hatten, der doch gerade erst krabbeln, laufen, sprechen gelernt hatte, rannte nun mit seinem riesigen Schulranzen und seiner noch größeren Schultüte nach vorn zu seiner Lehrerin, als habe er in seinem Leben noch nie etwas anderes getan. Wir waren gerührt, und seine Oma, was meine Mutter ist, wurde historisch. „Genau wie du damals, mein Junge!“
Väter, Großväter, Onkel, Tanten und eigentlich alle anderen zückten Fotoapparate, Smartphones und Kameras, um den Augenblick der Einschulung auf digitales Fotopapier zu bannen, während den Kindern auf der Schlachtbank… Sitzbank langsam dämmerte, dass sich nun einiges in ihrem Leben ändern würde. Es dauerte ein kleines bisschen länger, bis der Rektor sämtliche Okulare wieder zurück auf ihre Sitzplätze beordert hatte, damit die frischen Schüler nun ihrerseits endlich ihre Plätze in den Klassenräumen einnehmen konnten. Die erste Unterrichtsstunde begann, und wir Eltern und Großeltern waren nicht zugelassen. Ein seltsames Gefühl… Aber wir wurden entschädigt, denn das ausgesprochen freundlich lächelnde Zahnspangen-Geschwader bewirtete uns mit Unmengen heißen Kaffees und süßen Kuchens. Mit vollem Magen und ungefähr 3,6 Promille Koffein im Blut führte man uns dann in den Klassenraum, wo wir Sohnemann beobachten konnten, der seinen Sitzplatz einrichtete und den Rest der Schülerschaft beäugte, und seine Oma, was meine Mutter ist, wurde historisch. „Genau wie du damals, mein Junge!“
Den Abschluss bildete das obligatorische gemeinsame Foto, damit die Erstklässler von heute einst den Erstklässlern in ferner Zukunft von ihrem ersten Schultag berichten können. Es dauerte eine kleine Weile, bis wir unseren künftigen Meisterschüler in der Menge winkender Kinder ausmachen konnten, aber dann fanden wir ihn, und seine Oma, was meine Mutter ist, wurde historisch. „Genau wie du damals, mein Junge!“
Als wir unseren Sohn wieder in Empfang nahmen, nach Reden, Gesang, Kaffee und Kuchen und dem Foto, schaute Prinz Weißichalles in die Runde und rief: „Aber ich habe doch noch gar nichts gelernt!“
Ich schaute seine Oma an, was meine Mutter ist, und sie sagte – nichts. Sie lachte nur, wie wir alle.
Dann wird Sohnemann morgen wohl nochmal in die Schule gehen müssen…
Nun ist die erste Woche in der neuen Schule vergangen, und unser Sohn hat sich daran gewöhnt, dass er wohl noch ein Weilchen länger in die Schule gehen muss. Immerhin freut er sich noch jeden Morgen darauf, in die Schule zu gehen, denn inzwischen hat er doch tatsächlich angefangen, was zu lernen! Mir selbst ist ein bisschen mulmig zumute, wenn ich an solche Begriffe wie Hausaufgaben oder Klassenarbeit denke, denn ich weiß noch sehr genau, was ich damals von der Schule und der damit zusammenhängenden Arbeit hielt…
„Genau wie du damals, mein Junge!“ Ich hoffe nicht…
*„light“, weil uns ja noch keine bösen Überraschungen über unseren Sohn erzählt werden konnten. Theoretisch.
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